Für kaum eine Band aus der Metalcore-Szene ging es in den vergangenen Jahren so steil nach oben wie für I Prevail. Nach dem 2019 erschienenen „Trauma“, das bereits zahlreiche neue Fans mit sich brachte, legten sie mit „True Power“ (2022) nochmal nach und schafften es hierzulande größere Hallen zu füllen.
Ein markantes Merkmal der Formation aus Michigan war seit jeher der harmonische Wechsel aus Cleans (Brian Burkheiser) und Shouts (Eric Vanlerberghe). Für das nunmehr vierte Werk „Violent Nature“ musste die Band erstmals ohne Sänger Brian Burkheiser auskommen, von dem sie sich Anfang des Jahres getrennt hatten. Laut Burkheiser ein eiskalter Rauswurf, der Rest der Band spricht von einer einvernehmlichen Trennung mit Hürden. Nachfolgend werden wir die Jungs aber an ihrer Musik messen, da es auch ohne zweiten Sänger das ist, was am Ende zählt.
Der Opener „Synthetic Soul“ hinterlässt einen gemischten Eindruck. Während die ersten Klargesang-Eindrücke von Vanlerberghe gut funktionieren und sich in die ruhigeren Passagen einfügen, wirken die erste Bridge sowie der Breakdown am Ende eher deplatziert und harmonieren leider nicht mit dem Rest des Songs.
Der Nachfolger „NWO“ startet direkt um einiges härter, mit eben den erbarmungslosen Shouts für die Vanlerberghe bekannt ist – diese Härte nimmt im Verlauf des Songs nicht ab. Im Refrain finden sich sogar tiefe Growls, die jedoch leider unter zu vielen Synthesizer-Effekten, die sowohl den Gesang als auch die Instrumente verzerren, untergehen. „Pray“ fungiert als erste Ballade auf Violent Nature und nimmt etwas des zuvor gesteigerten Tempos raus. Ein ordentlicher Breakdown in der Mitte mit authentisch verzweifelten Screams darf natürlich dennoch nicht fehlen.
Als Singleauskopplung vorab kam „Annihilate Me“ bereits gut an und auch in das Gesamtalbum fügt sich die Nummer toll ein. Hier klingen I Prevail sehr ähnlich wie die Genre-Kollegen Architects, nehmen aber glücklicherweise v.a. die positiven Einflüsse mit. Gesungenes Intro, mitreißender Singalong-Refrain und zwischendrin tief treffende Shouts sowie ein Gitarrensolo. So muss ein moderner Post-Hardcore Song klingen.
„Violent Nature“ holt mich persönlich hingegen als Titeltrack nicht ab. Die Band wechselt hier innerhalb eines Songs zu einem Deathcore-Sound und der Song gibt mir während der gerade mal zwei Minuten das Gefühl, dass sie nicht genau wissen, wo sie damit hinwollen. Dennoch sehe ich hier natürlich Potenzial für Circle-Pits und Headbangen während der Sommerfestivals.
Mit „Rain“ folgt der persönliche Favorit des Albums. Die neuen Clean-Vocals sind in Strophe und Refrain on Point, die Catch-Phrase „Let it Rain“ setzt sich sofort im Gedächtnis fest. Die Transitions zwischen den einzelnen Parts wirken angenehm flüssig und der Breakdown am Ende baut sich authentisch auf. Gerne dürfen I Prevail dieses Stück als Blaupause für zukünftige Projekte nehmen.
Auch einen Love-Song gibt es auf Violent Nature. „Into Hell“ macht Spaß, ist eingängig und dürfte v.a. Verliebte ansprechen. Einzig der permanente Pitch-Effekt auf dem Gesang passt für mich nicht und lässt ihn leider zeitweise sehr künstlich klingen.
„Crimson Clover“ versprüht Lagerfeuer-Vibes, leider wird auch hier der Gesang synthetisch hochgepitcht und in Teilen stark bearbeitet. Nach den eher ruhigeren Vorgängern macht „God“ da weiter, wo „Violent Nature“ aufgehört hatte. Growl-Liebhaber und Enthusiasten für verzerrte Gitarren und Effekte kommen hier auf ihre kosten. „Stay Away“ rundet das Album mit der so bekannten Formel aus Clean-Vocals und brachialen Shouts ab. Hier dürfen auch Beat und Instrumente in den Vordergrund treten und den angenehmen Gesang unterstreichen.
Fazit
Nach dem letzten Album lag die Messlatte sehr hoch und I Prevail haben mit Sänger Brian Burkheiser eine entscheidende Komponente der alten Erfolgsformel verloren. Positiv anzumerken ist, dass sie nicht versuchen diesem Anspruch ohne ihn gereicht zu werden, sondern die Songs nun gänzlich auf den alleinigen Sänger Eric V. ausrichten. Dieser zeigt an einigen Stellen schon, was er kann und wo er hinmöchte. Zwischendrin wird dann leider etwas zu viel experimentiert, was allerdings bestimmt Nebenwirkung der aktuellen Neuerfindung der Band ist. „Violent Nature“ ist kurzweilig, liefert Abwechslung und sorgt sicherlich für den ein oder anderen neuen Fan-Liebling. Wenn I Prevail die richtigen Anhaltspunkte für künftige Visionen nehmen und verfeinern, steht einer Fortsetzung der Erfolgssträhne nichts im Wege.
Redaktioneller Hinweis (JM): Die vergebene Punktzahl für „Artwork“ geht nicht in die Gesamtpunktzahl mit ein, da diese nur die musikalische Qualität widerspiegeln soll. Es wird versucht alle Bands/Künstler im Kontext ihrer derzeitigen Größe und Möglichkeiten zu bewerten.