Review: Grossstadtgeflüster – Das Über-Icke

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Fotocredits:
Albumcover
9.4
Das ist Kunst!

Am Freitag, den 9. Februar 2024, erscheint “Das Über-Icke”! So heisst das neue Meisterwerk von Grossstadtgeflüster. Es ist ihr mittlerweile 7. Studioalbum und verweigert sich weiterhin auf freudvolle Art und Weise jeglichen gelehrten Kategorien der Musik und Kunst. In ihrem Pressetext heisst es: “Die Hymnen von Grossstadtgeflüster sind tanzende Unabhängigkeitserklärungen, kopfnickende Befreiungsschläge von gesellschaftlichem oder selbstgemachtem Erwartungsdruck, pogende Ping-Pongs zwischen Größenwahn und Scheitern.” Das fasst das Ganze schon mal gut zusammen, aber betrachten wir doch lieber nochmal einzelne Songs von “Das Über-Icke” etwas genauer.

Das Album startet mit dem sozusagen Titel-Track “Icke”. Ich hatte das Glück diesen Song live zuerst kennenzulernen, als Grossstadtgeflüster als Support für Jan Delay bei Strand Open Air gespielt haben. Direkt vom ersten Moment an war ich schockverliebt! Der Sound ist vergleichsweise minimalistisch gehalten, doch genau dies passt hier perfekt um den Text und Inhalt zu unterstreichen. Es ist eine Hymne auf die überbordende pure Lust des Seins. Doch vor allem die klassisch anmutende Bridge hat es mir persönlich angetan. Diese kontrastiert den tanzbaren Beat mit einem Melodiebogen wie aus einem kommunistischen Archiv-Karton der 3-Groschen-Oper und greift dabei auch auf Anspielungen von Oldies zurück. Zum Beispiel mit der Zeile “Wer packt die Badehose ein?”

Wenn man “Icke” als musikalisch minimalistisch bezeichnet, muss man dann aber auch “Wenn ich deine Eltern wär” als maximalistisch betiteln. Inhaltlich dreht sich der Song darum, dass man seine eigenen Fehler machen muss, um daraus zu lernen.

“Jeder weiß, dass ‘ne Herdplatte heiß istDoch das zu begreifen ist ‘ne ganz andre WeltUnd man begreift, dass die Herdplatte heiß istWenn sich die Haut von der Handfläche pellt
Wenn ich deine Eltern wärWürd ich sagen: “Kind, pass aufDu machst es dir nur selber schwerDeine Zukunft, die geht drauf

Wenn ich deine Eltern wärGäbe es ein MachtwortAber weil ich’s nicht bin, sag ich einfach

Mach doch Wir werden alle sterben, was soll schon passier’n?Mach doch Um was zu bereuen, muss man was riskier’n”

“Mein Bier” fällt einfach mal krass aus der Reihe mit seinem Shanty-haften Intro und den darauf folgenden fetten Beats. Der Song handelt davon einfach mal die Probleme anderer auch unkommentiert zu lassen. “Komm’ wir von den großen Themen mal zu Hopfen und zu Malz. Nicht dass die verloren geh’n, denn jetzt sind die noch gut kalt.”

Weiter geht es dann mit “Huckepack”! Der Song ist einfach direkt beim ersten Hören mein Lieblingstrack geworden. Vielleicht auch weil er schöne Erinnerungen mit meinem besten Freund in Gedanken gerufen hat. “Huckepack” handelt von einer Partynacht, die nicht ganz so wie geplant endet und eine Person muss nach Hause gebracht werden – selbstverständlich Huckepack. Halt so ein Erlebnis wie es jedes Beste-Freunde-Duo wahrscheinlich schon mal erlebt hat. Doch werden nicht nur die Geschehnisse, sondern auch die Emotionen dazu in diesem Song wunderbar verpackt.

“Yeah, häng’ an dir wie ein Koalabärchen
Ich steh’ auf auf deine Nackenhärchen
Du tust so, als ob ich gar nicht schwer bin
Wir werden eins, während wir zur Tanke schwanken
Kann mich leider nicht bei dir bedanken
Denn ich scheiter’ an den Konsonanten
Du bist so geil, wie du alles mit mir hinbekommst
Noch ‘n allerletzten Gin, los, komm!
Ding-dang-dong, doch du holst mir Wasser und Minzbonbons
Herz
Ey, wie kann man nur so gut sein?
Will einfach an dir dranbleiben
Ey, ich mal’ dir ‘n Gutschein
Für ein paar neue Bandscheiben

Du trägst mich huckepack
Den ganzen Weg nach Haus
Hab’ zu viel Liebe in mir
Ich kotz’ alles aus
Du trägst mich huckepack
Den ganzen Weg nach haus
Hab’ so viel Liebe in mir
Fuck, da hinten geht die Sonne auf “

“Leben am Limit” kann man meiner Meinung damit zusammenfassen, dass es eine Aufzählung an Rebellionen des Spießertums ist. Wobei halt nichts Verbotenes getan wird, wie zum Beispiel Bezahlen und dann Wegrennen. Der wahrscheinlich eingängigste Song ist wohl “Ich kündige” – ein wahrer Rave-Brecher! Melodisch einfach gehalten und doch stark instrumentalisiert. Der Song handelt von einem Gefühl was wohl schon jeder mal hatte: man bemüht sich noch so sehr, doch es bringt nichts und man denkt dran alles hinzuwerfen. Und wer hat denn bitte die AGBs gelesen?

“Scheitert das System am Menschen, oder der Mensch am System?” – Eine sehr tiefgründige Frage um einen Song namens “Matrjoschka” zu beginnen. Der gesamte Chanson ist eine Einladung die eigenen Wahrheit in Frage zu stellen. Auf ihn folgt “Anders als ich”, welcher durch seinen Dance-Rhythmus und einem Text, der einem zum Schmunzeln bringt, überzeugt. Wie geil ist denn bitte die Zeile: “Mein Ich ist nicht schreibgeschützt”? Aber das Grossstadtgeflüster großartige Poeten sind haben sie schon oft bewiesen und tun dies auch weiterhin. Zum Beispiel auch im Song “Verschenktes Potential” mit der Zeile: “In einem dieser Leben, die es nicht geworden sind, hätte ich vielleicht wirklich was bewegt”. Der Track kommt eher ruhig daher, um dann am Ende doch noch zu eskalieren und handelt davon, dass die Zeit viel zu schnell vorbeirast und man eigentlich gern ein zweites, gleiches Leben hätte.

Der nun folgende Song ist ein einziger Solo-Rap-Part von Raphael über geschlagene 2 Minuten. Kein Refrain, keine Pause – purer Inhalt! Der Song nennt sich “Raider”. Achja, Raider heisst jetzt Twix. Eine wirklich tolle Anspielung auf den Inhalt des Songs, denn Dinge ändern sich mit der Zeit (nicht immer zum Positiven) und man kann nichts dagegen tun. Nach diesem harten Blick auf die Realität braucht es wohl laut Grossstadtgeflüster einen Break mit “Heuballen” – was für ein Titel! Der hat direkt Neugierde bei mir geweckt. Dahinter versteckt sich ein sehr psychedelischer Kiffer-Song. Dieser ist im Vergleich zum vorhergehenden Song auch wieder musikalisch wesentlich ausgeschmückter.

“Da lang?!” wirft mehr Fragen auf als es beantwortet und lässt einen mit heruntergeklappter Kinnlade dastehen. Der Track ist chaotisch, exzentrisch und vollkommen wahnsinnig mit all den Themenwechseln und verschiedenen musikalischen Motiven. Um einen dann wieder zurück in die Realität zu bringen kommt “Ketchup” um die Ecke. Ich finde es einfach wahnsinnig genial wie zuerst im Verse klassische Musik alles hinterlegt und dann mit einem gingantischen Drop es übergeht zum eskalierenden Refrain. An dieser Stelle möchte ich auch einmal darauf hinweisen, dass man in der Bridge ein leises PewPewPew hören kann. Der Song handelt davon, dass alles noch so nobel und edel sein kann und doch nicht so befriedigend wie Ketchup.

Huch! Auf einmal sind wir schon am Ende von “Das Über-Icke” angelangt. Bei “Ein Tag” wird es dann wieder ruhig und es wirkt wirklich wie eine Verabschiedung, gerade auch weil Jen und Raphael den Refrain im Duett singen. Der Song handelt von der Belanglosigkeit des Alltags und der absoluten Langeweile!

“Das wird ein Tag, ein Tag wie jeder and’re,
wann hört der auf
und wann fängt der endlich an.
Ich schwöre der wird nie wieder erwähnt,
davon werd ich noch meinen Enkeln nicht erzähl’n,
denn das was heut passiert ist,
das ist alles völlig irrelevant!”

Was für eine Achterbahnfahrt! “Das Über-Icke” entführt einen in komplett andere Welten und schneidet Themen an, die wirklich mal einen Gedanken oder auch zwei Wert sind. Den roten Faden bilden die Texte, die sich traditionell zu einem Geflecht aus Wortwitz, Ironie, Doppelreimen, Meta-Ebenen und Punchlines zwischen philosophischem Tiefgang und Rummelbumskalenderblättern zusammensetzen. Es ist ein Ping-Pong zwischen Größenwahn und Scheitern und ein Blick auf die Ambivalenz der Existenz. Vielleicht nutze ich gerade all diese schönen, gebildeten Worte, weil ich einfach nicht die perfekten Worte finde um “Das Über-Icke” zu beschreiben. Es ist dafür einfach zu sehr ein Kunstwerk als bewertet zu werden. Es hat so viele Nuancen und es scheint wie ein Weg Abseits der Straße, der viel schöner ist als gedacht. Überzeugt euch einfach selbst davon.

Mit “Das Über-Icke” gehen Grossstadtgeflüster auch natürlich auf Tour. Hier sind die Dates:

22.02.24 Lindau – Club Vaudeville
23.04.24 CH-Zürich – Komplex
24.02.24 CH-Bern – Bierhübeli
29.02.24 Wiesbaden – Schlachthof
01.03.24 Stuttgart – Im Wizemann
02.03.24 München – Tonhalle
08.03.24 Hannover – Capitol
09.03.24 Leipzig – Täubchenthal
21.03.24 Köln – E-Werk
22.03.24 Münster – Skaters Palace
23.03.24 Hamburg – Sporthalle
30.03.24 Berlin – CHalle
02.05.24 A-Salzburg – Rockhouse
03.05.24 A-Wien – Arena Open Air
04.05.24 A-Graz – Orpheum

Unser Fazit


Sound
10
Inhalt
10
Kreativität
9
Artwork
8
Wiederhörwert
10